Matthias Harder
Nataly Hockes "Leitkultur" bei Semjon Contemporary

Der bedeutungsschwere Begriff "Leitkultur" ist kaum zu definieren und gerade in Deutschland häufig missbraucht worden; in dieser Ausstellung taucht er als übergreifender Titel mit ironischer Brechung auf. Nataly Hocke, ehemalige Meisterschülerin von Rebecca Horn, wählt die Titel für ihre Werke und Ausstellungen, so deskriptiv oder simpel sie zunächst erscheinen, stets mit Bedacht. Bei Semjon Contemporary blicken wir auf vertraute Gegenstände in winzigen Holzboxen oder in artifizielle Miniaturräume; gelegentlich fielen ihre skulpturalen Arrangements früher, beispielsweise unter dem Titel "Raumschiff", auch größer, raumgreifender aus. Die ungewöhnlichen Materialzusammenstellungen, Verschränkungen und Assemblagen strahlen eine faszinierende Leichtigkeit im Umgang mit den gewählten Materialien meist natürlichen Ursprungs aus; die Gegenstände werden in den Kästchen zu dreidimensionalen Abbildungen ihrer selbst. Hinter allem steht wohl auch die Idee einer Umwertung der Dinge und ihrer Bedeutungen, so als befreie die Künstlerin die Dinge von ihrer Funktionalität.

Bei den Kisten als Bildträger denken wir natürlich sofort an Joseph Cornell, den amerikanischen Experimentalbildhauer, oder an Reliquienschreine, allerdings ohne jeglichen Pomp der dort üblichen Gold- und Edelsteinbesätze; denn bei Hocke sind es pure, einfache Materialien. Die Kunstgeschichte gab einer früheren Kunstbewegung mit ähnlichen Prämissen treffend den Namen "art brut". Während Hockes kleine Kästen und Wandvitrinen nur nach einer Seite, nämlich der Schauseite hin, für unseren Betrachterblick geöffnet sind und gleichzeitig recht hermetisch wirken, sind ihre Raumarbeiten, etwa das "Gästezimmer", so offen und transparent, dass wir vor dem inneren Auge beinahe schon wieder Begrenzungswände errichten, um die Arbeit formal und optisch, ja um sie auch intellektuell fassen zu können. So stehen die Antagonismen Abgeschlossenheit und Durchdringung in ihrem Werk gleichberechtigt nebeneinander.

Doch es gibt auch zweidimensionale Werke: Die Hände auf dem Einladungskartenmotiv etwa sind Details von jahrhundertealten Gemälden aus den Gemäldegalerien dieser Welt, die Nataly Hocke mit Fokus auf die Hände der Dargestellten abfotografiert und auf diese Weise verdichtet hat. In der Konzentration und Kombination ist dies religiöser Fingerzeig und multiple Geste zugleich, somit ein Verweis auf unsere westliche, christlich-kulturelle Prägung und "Leitkultur" oder auch auf die übliche Handarbeit, die zu Zeiten von Renaissance und Barock herrschte. Denn darauf verweisen diese Hände wiederum modellhaft, auch wenn sie vermeintlich göttlichen Ursprungs sind. Heute hingegen berühren unsere Fingerspitzen überwiegend Computertastaturen oder wischen vorsichtig über Smartphone-Screens; nur wer noch selbst gärtnert, schneidert oder bildhauert, schöpft die kreativen Möglichkeiten der eigenen Hand aus. Dabei folgt aus dem Greifen, das lernen wir alle unbewusst bereits im Babyalter, erst das Begreifen. Doch diese Kenntnis und die Notwendigkeit ihrer Umsetzung im Alltagsleben erreicht uns kaum mehr. In Hockes Fotocollage sehen wir einige ungelenke Verschränkungen oder zärtliche Berührungen zwischen größeren und kleinen Händen, die motivisch auf Maria und den Christusknaben zurückzuführen sind. Diese Interaktion der Hände und Finger ist neben den zeigenden oder gar segnenden Gesten der entscheidende Hinweis auf das Miteinander unseres kollektiven menschlichen Handelns – und zuletzt der Verweis auf den wichtigsten Körperteil der Bildhauer.

Anhand ihrer jüngeren Arbeit "Welterbe" soll stellvertretend Hockes Arbeitsprozess und Intention aufgezeigt werden: wir sehen mehrere winzige Gesteinsbrocken hinter einer runden Aussparung im Glas, die eine kleinen, weiß lasierte Holzkiste abschließt. Die Tuffsteinbruchstücke stammen vom Herkulesmonument in Kassel, der Heimatstadt der Künstlerin. Der schlossartige Unterbau für die monumentale Bronzefigur ist vor etwa 300 Jahren aus Tuffstein gefertigt worden und bröckelt inzwischen langsam vor sich hin. Nichtsdestotrotz zählt das wuchtige Monument möglicherweise bald zum Weltkulturerbe, nachdem jüngst ein offizieller Antrag gestellt wurde; so entstand auch der knappe Titel für das Bildobjekt. Vor Ort aufgesammelte Steinchen vom fragilen Monument nähte Hocke später mit Seidenfäden auf die Rückwand des Präsentationskastens, der wiederum von ihr aus einem alten hölzernen Türrahmen einer Galerie in der Auguststraße umgebaut wurde, bevor diese in einen modernen "white cube" umgestaltet wurde. Das Glas vor dem Kasten hat Hocke zunächst mit weißer Farbe bemalt und anschließend mittig einen Kreis freigekratzt, um die Transparenz zumindest partiell für die Sichtscheibe wiederherzustellen. So arbeitet die Künstlerin bei einem Werk häufig an mehreren Themen gleichzeitig, hier besticht die mehrfache künstlerische Transformation, die sowohl inhaltlich als auch räumlich funktioniert.

Alles existiert in ihrem Werk scheinbar einträchtig nebeneinander: das kleine und das große Format, das all-over-Prinzip und die Systematik, Gesammeltes und Gebautes, Additives und Subtraktives. Viele Boxen sind bis an den Rand ausgefüllt, manche wie "Welterbe" bleiben fast leer, wiederum andere enthalten nicht den Gegenstand selbst, sondern deren Abbild, etwa der "Flaschenkasten": Neun leere transparente Glasflaschen ohne Etikett, nebeneinander aufgereiht, stehen in einer weißgebeizten Holzbox, doch es sind nicht die Flaschen selbst, sondern eine auf transparente Folie vergrößerte Fotografie, die als Stellvertreter für den verlorenen Gegenstand steht. In unserer kunsthistorischen Erinnerung blitzen in diesem Zusammenhang diffus die ätherischen Stillleben eines Nicolas de Staël oder Giorgio Morandi auf. Die Transparenz als Motiv wird in Hockes Objektarbeit – jenseits des en passant aufscheinenden Illusionismus – gleich dreifach befragt, mit der Materialität der Flasche, der Folie als Bildträger sowie der Glasscheibe des Kastens. Hier ignoriert sie wiederum bewusst die grundsätzliche Reproduktionsmöglichkeit, diesmal des fotografischen Abbildes, denn auch dieses Werk ist keine Edition, sondern ein Unikat. Zugrunde liegen stets langwierige, grundsätzliche und intelligente Überlegungen zu Material und Präsentationsform in der zeitgenössischen Skulptur. Der Präsentationsort Galerie wird zum erweiterten Raum dieser Fragestellungen. Die Objekte seien "stumme Zeugen", so die Künstlerin, sie schaffe "keine Abbilder, sondern Dinge selbst". Und die Dinge werden von ihr entkontextualisiert und schließlich neu verortet. Über das Bild-Abbild-Verhältnis, über Zwei- und Dreidimensionalität oder über das Material in ihrer puren Form und ihrer rätselhaften Inszenierung kann man vor Hockes faszinierendem Werk trefflich nachdenken.

Matthias Harder, 2012
 
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