Rita Strautmann
Vom Zauber des Fragments

Immer wieder großes Staunen befällt mich beim Betreten von Nataly Hockes Atelier, gleich ob früher in den Kasseler Kasernen oder jetzt am Landwehrkanal in Berlin. Das Atelier der Künstlerin gleicht einer Wunderkammer, in der sich Objekte aus der Natur, von Menschen geschaffene Dinge sowie Symbole der geistigen Welt zusammenfinden. Hier werden unterschiedlichste Materialien und Dinge, Bruchstücke der Zivilisation gehortet. Eine romantische Verklärung vergangener Epochen ist der Künstlerin jedoch fremd.
Dass Kinder sammeln, sich einen Schatz zulegen den sie hüten, ordnen, sortieren, verbergen und wieder offenbaren ist Bestandteiliher Entwicklung und hilft beim Erlernen des Umgangs mit Objekten. Erwachsene Sammler streben nach Vollständigkeit und Abgeschlossenheit, sind beherrscht vom Wunsch der Exklusivität. Demgegenüber ist Nataly Hockes nach allen Seiten offene Ansammlung von scheinbar nutzlosen Gegenständen und Materialien eine Dokumentation der Unvollständigkeit, eine Kollektion der Schrammen, Brüche, Zersplitterungen. Der Charakter der Dinge, die sie sammelt und irgendwann später in ihren Werken verarbeitet, ist nicht exquisit sondern erst einmal unspektakulär. Nataly Hockes Wunderkammer ist keine Endstation, sondern Umschlagplatz und Ausgangspunkt für die weitere künstlerische Verarbeitung dieser Objekte.
Mit Gegenständen, die von ihrer Funktionalität längst entbunden sind, schafft die Künstlerin aus Armseligkeiten ständig neuen visuellen Reichtum, konstruiert Gegengeschichten und lässt dabei in simulierten großen wie kleinen Räumen immer wieder einzigartiges entstehen. Den Dingen einen Raum geben, dass heißt auch, ihnen Geborgenheit verleihen. Nicht von ungefähr sind Kisten nd Schachteln unverzichtbar für ihre Arbeiten, nicht als Rahmen sondern als Bestandteil der einzelnen Miniaturenvironments. Zu den Objektkästen von Joseph Cornell, die einem dabei in den Sinn kommen können, besteht sicherlich eine Seelenverwandtschaft. In Nataly Hockes komplexen Dingmontagen verschmelzen kollektives Gedächtnis und subjekive Erinnerungen. Die Künstlerin will nciht beschwören wie es war, sondern, in dem sie dem Unausgelebten eine Gestalt gibt, zeigen, wie es auch hätte sein können und eröffnet damit eine utopische Dimension.
Die großen Raumistallationen wie das "Bodenseezimmer" im Kunstverein Ravensburg beziehen ortsspezifische Besonderheiten mit ein.Ähnlich wie bei den Kisten und Schachteln dient der Raum selbst als strukturgebendes Element der Arbeit. Mit fragmentarischen Ansammlungen aus Texten, Fotos, Fundstücken entwickelt die Künstlerin eine fiktive Biografie des Ortes. Laut Kurt Schwittes meit "Merz" ein gefundenes Fragment, welches in ein Bild oder eine Installation eingearbeitet wird. Für den Vorgang des künstlerischen Tuns und Verhaltens, schien Schwittersdementsprechend das Wort "merzen" passend. "Merzen" verwandelt den Sinn der Dinge, indem es sie erst zu Materialien degradiert, sie damit von ihren alten Bedeutungen befreit und dann in neue Zusammenhänge stellt. "Merzen" ist das Bekenntnis zu Vieldeutigkeit und Unfertigkeit und verlangt das konsequente immer-weiter-formen mit den gerade zur Verfügung stehenden Mitteln. Nataly Hocke ist also nicht einfach Bildhauerin oder Künstlerin sondern im besten Sinne Merzerin.

Kat. Bodenseezimmer, Kunstverein Ravensburg
 
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Schnecken, 2004

Zigarrenkiste,Glas, Farbe,Schaumstoff, Schneckengehäuse, Baumrinde